– Selbstverletzung – Ritzen gegen den inneren Schmerz Junge Menschen schneiden sich immer wieder mit Rasierklingen, Scherben oder Nägeln in die Haut. So tief, dass Blut fließt. Was bringt sie dazu, sich selber solche Schmerzen zuzufügen? Und wie können sie sich von diesem Verhalten befreien? W enn Jugendliche sich selbst ver letzen, steckt in den allermeisten Fällen großes seelisches Leid da hinter“, erläutert Prof. Dr. Michael Kaess, Direktor und Chefarzt der Universitäts klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern. „Die Selbstverletzung hat für sie die Funktion, ihre starken negativen Gefühle zu regulieren und innere Anspannung abzubauen. Durch das Ritzen können sie sich kurzfristig Erleichterung verschaffen. Bei einigen Jugendlichen dient die Selbstverletzung auch dazu, sich selbst zu be strafen. Einige können sich auch nur durch den körperlichen Schmerz wieder selbst spü ren. Dies ist zum Beispiel bei Traumapatienten häufig der Fall.“ Selten ist es so, dass Jugendli che das Ritzen nur einsetzen, um auf sich auf merksam zu machen. Die meisten verbergen ihre Verletzungen vor anderen und schämen sich deswegen. Die Betroffenen möchten ihre übermächtigen negativen Gefühle loswerden, die sie so quälen. „Jugendliche können häufig ihre Emotionen noch nicht gut kontrollieren. Sie handeln viel stärker als Erwachsene impulsiv und wenig weit blickend“, so Prof. Dr. Kaess. „Das Ritzen hilft ihnen erst einmal, den seelischen Schmerz zu mindern, auch wenn es auf lange Sicht nichts löst. Aber im Kopf passiert dann Folgendes: Im Gehirn wird das Belohnungszentrum angespro chen und wir speichern ab, dass uns dieses Ver halten Erleichterung verschafft. Wir lernen also, mhplus-Leistung Eine Depression bei Kindern zu erkennen, ist für Eltern und Ärzte nicht leicht. Die mhplus bietet im Rahmen von BKK Starke Kids ein spezielles Depressionsscreening für Kinder im Alter von 11 bis17 Jahren an. Mehr über BKK Starke Kids erfahren Sie auf Seite 13 dieses Magazins. dass Ritzen hilft. Beim nächsten Mal greifen wir daher wieder zum Messer. So entsteht ein Teufels kreis und das Ritzen nimmt Suchtcharakter an.“ Was können Eltern in dieser Situation tun? „Das Wichtigste ist, das Verhalten offen anzu sprechen“, rät Prof. Dr. Kaess. „Am besten nicht wertend, sondern so neutral wie möglich. Das Gespräch hilft herauszufinden, warum sich je mand ritzt. Denn Selbstverletzung passiert nie aus dem Nichts heraus. Hier fühlt ein junger Mensch schweres seelisches Leid. Das sollte man ernst nehmen und die Ursachen erforschen.“ Daher ist es auf jeden Fall sinnvoll, sich ärztli chen Rat bei einem Kinder und Jugendpsychia ter oder psychotherapeutin einzuholen, auch, um eine psychische Krankheit auszuschlie ßen. „Früherkennung ist auch bei psychischen Krankheiten bedeutend“, so Prof. Dr. Kaess. „Es ist wie bei anderen Krankheiten auch: Je eher sie entdeckt werden, desto besser können wir sie behandeln.“ Eine professionelle Abklärung ist zudem relevant, weil Selbstverletzung in 60 bis 80 Prozent der Fälle mit Suizidgedanken einhergeht. „Das heißt nicht, dass die Jugend lichen sich tatsächlich das Leben nehmen wer den. Aber die Gedanken sind da“, erklärt Prof. Dr. Kaess, „und damit auch ein erhöhtes Risiko. In der Therapie erhalten die jungen Patienten einen Notfallplan, wenn Gefühle und Gedanken den Impuls zur Selbstverletzung oder gar zur suizidalen Handlung auslösen. Im Plan steht, wen sie ansprechen können, was sie anderes tun können, um das Ritzen oder einen Suizidver such zu vermeiden. Er gibt Sicherheit.“ Was eine Therapie bewirkt Viele Menschen haben immer noch ein veraltetes Bild der Psychiatrie im Kopf. Daher fällt es oft nicht leicht, sich an die Spezialisten zu wenden. Prof. Dr. Kaess beruhigt: „Wenn man sich ein Bein bricht, geht man auch ins Krankenhaus und lässt sich behandeln. Wenn wir seelisch leiden, hilft uns die Psychiatrie. Das ist nichts anderes.“ Angst oder Scham vor einer Therapie 14 | mhplusdu Spezialausgabe 02/21