Mal kurz abdriften, die Gedanken schwei- fen lassen, ein wenig vor sich hin träu- men – eine kleine Gedankenpause vom Alltag kann richtig guttun. Wenn dieses Abdriften jedoch überhandnimmt, kann es zu einer massiven Belastung werden. So ergeht es Menschen, die unter dem sogenannten mal- adaptiven Tagträumen leiden. Bei ihnen ist der Hang zum Tagträumen so stark ausgeprägt, dass das Fantasieren mitunter große Teile des Tages einnimmt. Die Betroffenen hängen ihren Tag- träumen über Stunden nach, sitzend, liegend, manche laufen auch herum, gestikulieren und sprechen mit den Figuren, die ihnen in ihrer Fan- tasiewelt begegnen. Dieses zwanghafte Träumen kann so weit gehen, dass die Betroffenen ihren Alltag nur mühevoll oder kaum noch bewältigen können. Arbeiten, Haushalt, Sozialleben – alles leidet darunter. Was dieses zwanghafte Tagträumen verursacht, ist bislang noch wenig erforscht. Der Psychologe Eli Somer, der sich diesem Phänomen vor rund zwanzig Jahren als einer der Ersten widmete, schätzt, dass ungefähr einer von hundert Men- schen unter maladaptiven Tagträumen leidet. Manche würden danach regelrecht süchtig wer- den, so der ehemalige Professor der Universität Haifa. Dies sei jedoch eher die Minderheit. Viele Betroffene kennen das zwanghafte Tagträumen schon seit ihrer Kindheit. Besonders empfäng- lich dafür seien Menschen, die aufgrund eines Traumas unter emotionalen Schmerzen litten. Für sie seien die Tagträume eine Möglichkeit, den traumatischen Erinnerungen zu entfliehen. Auffallend ist auch ein weiteres Merkmal: Mal- adaptives Tagträumen tritt gehäuft bei Men- schen auf, die unter einer Aufmerksamkeitsde- fizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leiden. Nirit Soffer-Dudek, Psychologin an der Ben-Gurion- Universität des Negev in Israel, schaute hier im Rahmen einer Studie genauer hin. Sie und ihr Team befragten 83 Menschen mit einer ADHS- Diagnose unter anderem nach Symptomen wie Unaufmerksamkeit, Depressionen und Tagträu- mereien. Knapp 20 Prozent von ihnen erfüllten die vorgeschlagenen diagnostischen Kriterien für das maladaptive Tagträumen. Bei ihnen sei es streng genommen andersherum: Die typischen ADHS-Symptome wie Unaufmerksamkeit oder Depressionen seien eher Nebenwirkungen des ausufernden, zwanghaften Tagträumens. Für diese Menschen würde die Diagnose „zwang- haftes Tagträumen“ wahrscheinlich hilfreicher sein, vermutet Soffer-Dudek. Denn dann würde die Behandlung in erster Linie darauf abzielen. Von maladaptivem Tagträumen Betroffenen kann unter anderem im Rahmen einer Psychotherapie geholfen werden. Hier können die Ursache des übermächtigen Tagträumens – möglicherweise ein verdrängtes Trauma – und damit auch Alter- nativen gefunden werden, wie der Mensch mit seinem seelischen Schmerz umgehen kann. Und es können Strategien entwickelt werden, dem Sog des Abdriftens zu widerstehen. Die Stimulation der Sinne kann ein wirksames Mittel sein, bei- spielsweise etwas sehr Saures zu essen. Denn sensorische Reize verlagern die Aufmerksamkeit von außen in das Hier und Jetzt. Auch Achtsam- keitsübungen wie Meditation oder das Fokussie- ren auf den eigenen Atem können Anker sein, die Betroffenen in der Realität zu halten. Damit diese und weitere Techniken als Therapie anerkannt werden können, fehlt es jedoch bislang an For- schungsergebnissen. Um mehr Erkenntnisse über das zwanghafte Tagträumen zu gewinnen, tun sich viele Betroffene daher in Onlineselbsthilfe- gruppen zusammen. Hier tauschen sie sich aus, geben sich Tipps zur Bewältigung und fühlen sich verstanden – mit ihrer Erkrankung, zu der nach wie vor so viele Fragen offen sind. mhplusdu Spezialausgabe 01/23 | 17